Es war in den Jahren auf dem Gymnasium, das ich in einer Kleinstadt in Niederbayern besuchte. Einer Kleinstadt, die nicht leuchtete. Was leuchtete, waren die Tage am Gardasee. Meine Eltern hatten dort ein Haus, ein Haus mit nur zwei Zimmern, aber mit dicken Mauern aus Bruchstein. Früher war es eine Unterkunft für die Schafe und für den Hirten gewesen, mit einem Raum im Erdgeschoß, wo sich der offene Kamin befand, und mit einem Raum darüber, in dem statt der Schafe nun wir schliefen. Es gab eine Zisterne, in der sich das Regenwasser vom Dach sammelte, die den Wasserhahn beim Spülbecken versorgte und einen Schlauch im Freien, der unsere Dusche war. Wir nannten unser Domizil „Casa“, obwohl „casa“ im Italienischen ja eigentlich nur „Haus“ heißt. Auf dem Sitzplatz vor dem Haus sah man den ganzen südlichen See, am Ostufer den Monte Baldo, dessen Gipfel bis in den Frühsommer schneebedeckt war, auf unserer Seite den „Löwen“ von Gargnano, eine zum See hin sanft abfallende Hügelkette, majestätisch ruhend wie ein liegender Löwe, in dessen Schoß sich die Kirche und die verblichenen Dächer des kleinen Städtchens duckten, dahinter die tief eingeschnittene Bucht von Salò, und ganz im Süden reichte der Blick bis zum Ende des Sees, wo die Landschaft immer flacher und mediterraner wurde und die Konturen von Ufer und Halbinsel im Dunst verschwammen. Hier oben hörte man nur das Zirpen der Grillen und den Wind in den Bäumen. Der See glitzerte gleißend, und in der flirrenden Luft lag die ganze unbestimmte Erwartung der Jugend.
Die „Casa“ lag in einem Naturschutzgebiet oberhalb des Dorfes, zu dem ein schmaler Fußpfad den steilen Hang hinab führte. Das Dorf war ein altes Bergbauerndorf, in dem die Serpentinen der Bergstraße endeten. Die Dorfkinder waren früher zu Fuß zwei Stunden zur Schule unten am Ufer gegangen, und zwei Stunden nach der Schule wieder zurück. Es gab einen kleinen Dorfladen mit dem Nötigsten, dessen Tür immer offen stand, und aus der Tür drang der Geruch von frischen Panini, die wunderbar dufteten, aber schrecklich schmeckten, wie von Pappe umhüllte Luft.
Tagsüber badeten wir im samtigen Wasser des Sees, segelten mit dem hölzernen Segelboot und wuschen am alten steinernen Brunnen im Schatten der Arkaden riesige Wassermelonen, um sie dann am Strand zu verzehren. Am Abend kehrten wir sonnendurchglüht zurück in unser Bergdorf. Mitten im Dorf, das mit wenigen Häusern und engen Gassen am Berg klebte, war eine kleine Taverne, in die damals noch die Einheimischen gingen, um ein Glas Roten zu trinken oder einen Grappa. Man betrat den Hof durch einen gemauerten Torbogen, rechts das Weinlager, die Cantina, links die Toiletten, die man versuchte, so wenig wie irgend möglich aufzusuchen, und geradeaus führte die Freitreppe zur Terrasse im ersten Stock, die, von Weinlaub beschattet, das eigentliche Herzstück der Trattoria war. Im Gastraum saß man eigentlich nur im Winter oder bei größeren Feierlichkeiten wie dem Osteressen mit Spieß vom Grill.
Die Wirtin hieß Candida, aber wir nannten sie unter uns oft auch „Hexe Wackelzahn“, weil sie uns an eine Figur aus einem Kinderbuch erinnerte. Sie kam, immer etwas in Eile, mit ihrer um die Hüfte gewickelten geblümten Schürze aus der Küche, mit behenden Schritten und vielen Tellern in den vom Spülen roten Händen, die in eigentümlichem Kontrast zu ihren grazilen Bewegungen standen. Sie war nicht im eigentlichen Sinne schön, aber anmutig und von großer Herzlichkeit. Sie hatte eine etwas rauchige, belegte Stimme, herzförmige, volle Lippen und etwas schrägstehende, große, traurige Augen.
Ihr Mann Giulio, wegen seiner kaputten Hüfte auf seinen Stock gelehnt, überwachte das Arbeitsgeschehen eher als daß er daran teilnahm. Dabei war er meist mürrisch und ließ jegliche verbindliche Wirtsattitüde vermissen. Er hatte dichtes, gewelltes, aber schon vor der Zeit schlohweißes Haar und einen weißen Schnurrbart. Als junger Mann war er sicher sehr ansehnlich gewesen. Wenn er ab und zu dann doch einmal lachte, blinkten zwei Goldzähne.
Wir aßen Salate und Pasta mit allen möglichen Soßen und genierten uns nicht, die um den Mund verschmierten Bolognesereste in die frisch gestärkten Stoffservietten zu wischen. Der Rotwein war hausgemacht und kam in den bauchigen Bastflaschen auf den Tisch. Eigentlich hätte ich gerne so eine Bastflasche mitgenommen, aber ich wollte mich nicht als die deutsche Touristin gerieren, die ich nichtsdestotrotz war.
Oft waren auch Freunde meiner Eltern mit dabei, die bei uns oben auf der „Casa“ übernachteten, und nach dem Essen blieb es nicht bei dem einen Grappa. Das rächte sich dann schon auf dem Heimweg; denn dort, wo der Pfad aus dem Dorf führte, mußte man über eine alte Brücke balancieren, bei der nur noch wenige Planken intakt waren. Nach einem besonders fröhlichen Gelage war einer der Freunde tatsächlich ins Leere getreten und hing nun mit beiden Händen an einem der Stahlträger, auf denen die lückenhaften Holzplanken ruhten. In unserem weinseligen Übermut fanden wir die Situation unglaublich komisch und bogen uns vor Lachen, bis sich endlich einer der Männer des hängenden Freundes erbarmte, der die Situation nicht gar so lustig fand.
Fast zehn Jahre später war ich dann wieder in unserem alten Dorf. Die kurzgeschnittenen dichten Locken von Candida waren ergraut, Giulio konnte nicht mehr weißer werden, als er ohnehin schon war, aber er schien mir noch mürrischer als früher. Die alte Unmittelbarkeit und das Gefühl dazuzugehören waren natürlich vorbei; ich hatte insofern nicht mehr viel zu verlieren und traute mich nun endlich, den Wirt um eine leere Bastflasche zu bitten. Giulio steckte sich einen Zahnstocher zwischen die Zähne und humpelte mit seinem Stock zur Außentreppe. Unten in der Cantina roch es muffig, und es war so dunkel, daß ich mich fragte, wie er in diesem Dämmerlicht etwas finden konnte. Er kam aber kurze Zeit später zurück und hatte eine bauchige Flasche in der Hand, die er mir wortlos entgegenstreckte.
Das warst Du. Die heilige Ölflasche.
Doch halt, so stimmt das nicht. Damals warst du noch nicht heilig.
Damals warst du nur eine schöne Flasche. Eine etwas spezielle allerdings, denn die Glasflasche selbst war tatsächlich noch mundgeblasen und entsprechend etwas schief und asymmetrisch und mit ein paar Lufteinschlüssen, aber die alte Umwicklung aus Bast war offenbar in den frühen Sechziger Jahren durch ein damals modernes blaues Kunststoffgeflecht ersetzt worden. Ich war im ersten Moment ein wenig enttäuscht, daß es keine klassische Bastflasche war, aber ich traute mich dem knurrigen Wirt gegenüber nicht mit solchen stilistischen Spitzfindigkeiten zu kommen. Und mit den Jahren war ich dann von dieser anachronistischen Kombination zunehmend begeistert.
Die ersten Jahre warst du gar nicht wirklich im Einsatz. Du standst in der Küche oben auf dem beleuchteten Hängeschrank, den ich selbst entworfen hatte, als Dekoration. Dein erster richtiger Einsatz war bei meinem Kurzfilm „Picknick“. Mein Freund und ich waren damals noch nicht verheiratet und wohnten auch noch in getrennten Wohnungen. Auf dem Weg von der einen zur anderen Wohnung, in der ich auch mein Architekturbüro betrieb, fuhr ich immer mit dem Fahrrad durch die Paul-Heyse-Unterführung, die als verkehrsumtostes, auspuffgasbelastetes Nadelöhr zwar sehr verrufen ist, aber nichtsdestotrotz mit den genieteten Stahlträgern und den facettierten Fliesen ein wunderbares Baudenkmal aus dem späten neunzehnten Jahrhundert ist. Im Schein der Neonröhren dachte ich an Paris, Les Halles, an Filme der Nouvelle Vague und an die große Freiheit.
Um einmal länger dort zu verweilen als bei der kurzen Durchfahrt, plante ich ein Picknick auf dem breiten Gehweg. Da man so etwas nicht alle Tage macht, sollten ein Freund und meine beste Freundin filmen. Ich griff mir mein kleines Klapptischchen und den Klappstuhl, packte Brot, Schinken und Essiggurken ein, und dich füllte ich mit knapp zwei Liter Rotwein und steckte dich zu den anderen Sachen in meine Basttasche, die ich an den Lenker des Fahrrads hing, mit dem ich das gesamte Equipment zum Set fuhr, das ja um die Ecke war. Ohne jegliche Sicherheitsvorkehrungen für dich! Im Film hattest du eine zentrale Rolle, du standst auf dem kleinen Tischchen, das ich in der Unterführung aufgebaut hatte, und wurdest zunehmend geleert. Der Rückweg war dementsprechend auch etwas schwankend, aber auch da hatte ich keine Angst um dich.
Erst nach dem Umzug in die neue Wohnung wurdest du zur Olivenölflasche. Mit deinem blau umnetzten Bauch warst du das Highlight der Küchenlandschaft, neben roten Tomaten und gelben Zittronen in den flachen Schalen, unter dem Aluminiumsieb aus Griechenland mit den immer wieder genieteten schwarzlackierten Blechgriffen. Mein Architekturbüro hatte ich inzwischen aufgebeben und auch meine Möbelentwürfe nicht weiter verfolgt. Ich hatte einen festen Job im öffentlichen Dienst, und verheiratet war ich mittlerweile auch. In unserem Bergdorf war ich schon lange nicht mehr gewesen, aber meine Eltern erzählten mir, daß Candida gestorben war, sehr früh, mit Ende sechzig. Im Dorf gab es nun keine Trattoria mehr. Das war die Zeit, als du allmählich heilig wurdest. Du wurdest zur Inkarnation dessen, was nicht mehr war: Jugend, Lebenshunger, Kreativität, Spontaneität, Unbedingtheit, Phantasie, Vitalität. Ich begann, dich mit gewisser Wehmut zu tätscheln und ab und zu gab ich dir sogar, wenn ich mich allein in der Küche wußte, einen Kuß auf deinen schlanken Hals.
Wenn das Öl in dir aufgebraucht war, säuberte ich dich mit Wasser und Spülmittel, bevor ich wieder neues Öl einfüllte. Das hätte ich früher auch nicht gemacht, das Auswaschen, wahrscheinlich. Aus Sorge um deine Unversehrtheit fürchtete ich mich vor diesem Vorgang jedesmal umso mehr, je mehr deine Heiligkeit zugenommen hatte. Eines Tages war es wieder mal so weit, ich hatte dich mit Spülwasser gefüllt und mit der Flaschenbürste gerade deinen Boden erreicht, als ich merkte, wie plötzlich aus deinem Bauch das Wasser entwich. Ich stieß einen schrillen Schrei aus, woraufhin mein Mann entsetzt in die Küche kam und wissen wollte, was denn passiert sei.
„Die Ölflasche, meine heilige Ölflasche hat ein Loch!“, kreischte ich.
„Sag mal, spinnst du, da so zu schreien? Ich dachte, es ist was Schlimmes passiert!“
„Es ist auch was Schlimmes passiert“, entgegnete ich.
Ich mußte mich erst einmal hinsetzen. Nach dem ersten Schreck sichtete ich die Unfallstelle. Es gab einen zackigen Ausbruch an deinem unteren, runden Ende, ein paar kleine Glasscherben lagen in der Spüle. Unglaublich, wie dünn das mundgeblasene Glas hier unten am Flaschenboden war, ein Wunder, daß das überhaupt dem Druck der Flüssigkeiten standgehalten hatte. Ich sicherte alles fachmännisch und verbrachte dich und die Scherben zum Trocknen in mein Arbeitszimmer. Natürlich machte ich mir furchtbare Vorwürfe, daß ich nicht mehr aufgepaßt hatte. Die Bürste hatte an der dünnsten Stelle deinen Bauch durchstoßen. Am nächsten Tag klebte ich die kleinen Scherben in dein Loch ein, so gut es ging; die offenen Stellen, für die sich keine Scherben mehr gefunden hatten, mußte ich mit Kleber überbrücken.
Die nächsten Jahre hatte ich immer Angst um dich. Daß der Kleber nicht hält. Daß der Kleber nicht lebensmittelecht und giftig ist. Es ging aber erstaunlicherweise ganz gut, die Klebung war weitgehend dicht, nur ab und an habe ich sanft mit einem Küchentuch um dein ölumflortes Bäuchlein gewischt. Doch eines Tages, nachdem ich dich am Abend zuvor frisch aufgefüllt hatte (natürlich ohne den Auswaschvorgang, das hatte sich nach deiner Klebung selbstverständlich verboten), sah ich dich am nächsten Morgen dann in einer riesigen Öllache stehen. Jetzt war es soweit. Es ging nicht mehr.
Ich mußte der Situation ins Auge sehen. Der Zweikomponentenkleber, den ich bei deiner Reparatur zur Stabilisierung großzügig über die eigentliche Bruchstelle hinaus verteilt hatte, hatte eine in sich feste, haltbare Schicht gebildet, die sich unter der Einwirkung des Öldrucks nur bedauerlicherweise vom Glaskorpus gelöst hatte. Was konnte ich nun tun? Das ganze Procedere wiederholen, dich auswaschen, trocknen, neu verkleben, wieder Angst um dich haben, wieder kleben, nein, das war keine Lösung des Problems, sondern nur ein Verschieben. Ich gab mir einen wahnsinnigen Ruck und googelte im Internet nach Glasballons. Nach einiger Zeit fand ich tatsächlich einen ganz hübschen gebrauchten, dir sehr ähnlich, eineinhalb Liter, grünliches Wasserglas, aus Frankreich, immerhin.
Als er dann ankommt mit der Post, in tausend Schichten eingepackt wie Kronjuwelen, sind wir beide ganz aufgeregt, du und ich. Freude wäre hierfür das falsche Wort. Eher bange Erwartung. Der neue Ballon ist schön, aber industriell hergestellt, natürlich, nicht schief und mundgeblasen wie du. Und er hat nicht so einen schönen, langen, schmalen Hals wie du. Aber er kann selbst stehen. Vermutlich war auch er einmal mit Bast umwickelt gewesen, aber die neueren Flaschenmodelle haben offenbar zusätzlich ein abgeflachtes unteres Ende, so daß sie auch ohne den Bast stehen können. Dein Bauch ist vollkommen rund, ohne dein blaues Kunststoffgeflecht kannst du nicht stehen. Vorsichtig nehme ich dich aus deinem Geflecht, lege dich behutsam auf den Küchentisch und probiere aus, ob die neue Flasche in dein blaues Mäntelchen reinpaßt. Und siehe da: Sie paßt! Wärst du irgendeine Flasche – ich hätte mich wahnsinnig gefreut! Aber es geht nicht. Es geht einfach nicht. Wie du da liegst, vollkommen hilflos, wie du da haltlos etwas kullerst auf deinem runden Bauch, und dein modernistisches Kunststoffgeflecht aus den Sechziger Jahren, das dich seit nunmehr auch schon mehr als einem halben Jahrhundert umhüllt, wird ausgefüllt von einer fremden Industrieflasche, es kann sich ja nicht wehren, immer müßte ich an dich denken, wenn ich das neue Gespann anschaue, immer würde ich denken, daß nicht du es bist, nein, es geht einfach nicht. Es wäre Verrat.
Du stehst jetzt wieder oben auf dem beleuchteten Hängeschrank, ohne Funktion, aber vereint mit deinem blauen Mäntelchen. In Rente auf dem Gnadenhof. Die neue Flasche werde ich vielleicht anmalen, an der Stelle, wo früher vermutlich der Bast war, nur mit groben Strichen, ohne Mimikri, in deinem alten Kunststoffblau. Mal sehen.